Memorandum für einen kompetenteren Auslandsjournalismus
Die folgenden elf Punkte sind ein Beitrag zur aktuellen Qualitätsdiskussion im Auslandsjournalismus. Sie zielen darauf ab, Kompetenzen in journalistischen Systemen sowie Austausch und Verständnis zwischen Weltregionen, Kulturen und Staaten zu stärken. Das Memorandum ist ein Substrat intensiver Forschungen, in die Praxiserfahrungen dutzender Auslandskorrespondenten einflossen. Orientierungssystem für dieses Memorandum ist die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte.
1. Ziel von Auslandsberichterstattung ist der aufgeklärte Rezipient, der durch den Konsum von massenmedialem Journalismus intellektuellen und kulturellen Herausforderungen von Globalisierungsprozessen besser gewachsen ist als ohne.
2. Potenziale für internationale Vernetzungen und Kooperationen journalistischer Akteure müssen stärker genutzt werden. Auslandsjournalismus sollte die Kompetenzen lokaler Mitarbeiter, Stringer und ausländischer Journalisten stärker einbinden und fördern, um eine Berichterstattung mit Einheimischen zu ermöglichen und nicht nur über sie. Kooperationen und Qualifizierungen sollten verstärkt werden. Selbstbezüglichkeit und Orientierung an den Selbst-, Feind-, Mitleids- und Fremdbildern eigener Werteordnungen und an deren Vorstellungen über politische, wirtschaftliche, kulturelle und soziale Vorgänge reichen für Wirklichkeitsentwürfe eines progressiven Auslandsjournalismus nicht aus.
3. Journalismus muss seine Aufgabe als Vierte Gewalt im Ausland stärker wahrnehmen. Medienunternehmen sollten sowohl Ressourcen als auch Know-how bereitstellen und Machtkontrolle in Form von Hintergrund- und Recherchejournalismus im Ausland fördern. Dass trifft im besonderen Maß auf Themenfelder und Strukturen zu, für die Journalisten potenziell Kontrollfunktionen auszuüben haben: die Arbeit von Botschaften ihrer Staaten, Diplomatie, UN/Hilfsorganisationen, Militäreinsätze, Unternehmen etc.
4. Journalisten aus dem globalen Peripherien sollten verstärkt in den Machtzentren der Welt recherchieren und ihre Perspektiven über dortige Entwicklungen und Ereignisse in den globalen Nachrichtenmarkt einbringen.
5. Auslandsjournalisten kolportieren keine Propaganda und machen keine PR. Auch nicht für Hilfsorganisationen. Auslandsberichterstattung darf nicht dazu verkommen, Proklamationen und PR derer zu kolportieren, die vorgeben demokratische Regeln, humanitäre Werte oder Hilfe zur Selbsthilfe in alle Welt exportieren zu wollen. Auslandsjournalismus muss der Aufgabe gerecht werden, faktenorientiert, kritisch und hintergründig diese Proklamationen auf ihren Tatsachengehalt zu prüfen.
6. Berufsbilder im Auslandsjournalismus sind stärker zu differenzieren und zu spezialisieren. Auslandskorrespondenten, -redakteure und -reporter sind beispielsweise mit der Aufgabe überfordert, als einzelkämpfende Allrounder kompetent als Analyst, Wirtschafts-, Lifestyle- und Boulevardjournalist, als Krisen- und Kriegsberichterstatter arbeiten zu müssen – und das oft in enorm großen Berichtsgebieten.
7. Ausbildungsanforderungen und -angebote an Auslandskorrespondenten sollten definiert und professionalisiert werden. Innerbetriebliche und externe berufsbegleitende Weiterbildungsangebote sowie die Qualifizierung des journalistischen Nachwuchses sollten diesbezüglich auf ihre Existenz und Substanz hin überprüft werden. Stärkere Kooperationen zwischen Medienhäusern und wissenschaftlichen Einrichtungen etwa in den Bereichen der Regional-, Politik-, Medien-, Militärwissenschaften oder Journalismusforschung sind zweckmäßig.
8. Durch kluges redaktionelles Management sollte das Potential von Auslandsberichterstattung deutlicher ausgeschöpft werden. Ansatzpunkte sind unter anderem a) stringentere Auswahl von Korrespondenten und Redakteuren nach klar definierten Kompetenzkriterien, b) fundierte und kontinuierliche redaktionelle Betreuung von Korrespondenten und Reportern, c) Koordination von Korrespondenten, Reportern und Redakteuren auch über Ressortgrenzen hinweg, d) die stärkere Einbeziehung von Korrespondenten und Reportern in längerfristige konzeptionelle Planungen und Rechercheprojekte. e) Berichtsgebiete dürfen nicht zu „Herrschaftsbereichen“ einzelner Korrespondenten werden.
9. Technische Innovationen und neue Kommunikationsmöglichkeiten erleichtern Informationszugang, Kommunikation und Mobilität von Journalisten. Die Kehrseite der Medaille: Parallel dazu etabliert sich im Auslandsjournalismus ein virtueller Copy-Paste-Büro-Journalismus. Praktiker und Wissenschaftler sind dazu angehalten, sich stärker mit beschleunigten journalistischen Produktionsprozessen und ihren Auswirkungen auf den Auslandsjournalismus auseinanderzusetzen.
10. Um die Debatte über Auslandsjournalismus dezidierter mitgestalten zu können, sollten sich Auslandsjournalisten berufsständisch stärker organisieren – in ihren Berichtsgebieten als auch in ihren Herkunftsländern.
11. Der von der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland weitgehend von marktwirtschaftlichen Zwängen befreite öffentlich-rechtliche Rundfunk trägt besondere Verantwortung für den demokratischen Diskurs. Öffentlich-rechtliche Anstalten sind in besonderem Maße dazu verpflichtet, außenpolitische Entwicklungen sowie Entwicklungen im Ausland kompetent, prominent, vielfältig und umfangreich zu recherchieren, zu kontextualisieren, zu präsentieren und zu diskutieren. Auslandsjournalisten der öffentlich-rechtlichen Medien äußern jedoch Unzufriedenheit über Programmstrukturen, Redaktionsmanagement, inhaltliche Ausrichtungen, Quoten- und Inlandsorientierung sowie Boulevardisierungstendenzen. Die Diskrepanz von potenziell Machbarem und strukturell Möglichem führt teils zu erheblicher Frustration. Ein Lösungsvorschlag: Im Fernsehbereich könnten die weltweit stark aufgestellten und oft in Parallelstrukturen arbeitenden ARD-, ZDF- und Deutsche-Welle-Korrespondentennetze in einem gemeinsamen Auslandskanal kooperieren.
Dr. Lutz Mükke, Leipzig, Sommer 2019
* Teile des Memorandiums stammen aus dem Buch “Journalisten der Finsternis” und aus dem Netzwerk-Recherche-Dossier “Was wissen wir noch vom Weltgeschehen? Über die Krise des Auslandsjournalismus und die notwendige Differenzierung in der aktuellen ‚Qualitätsdiskussion’”, Autor: L. Mükke.